Russia

Briefe aus Russland

Brief aus Moskau 16.03.2022

Nun, jetzt habe ich die Möglichkeit bekommen etwas zu sagen, aber es ist gar nicht so leicht, sie zu nutzen.
Was soll ich sagen? Dass ich ratlos bin? Innerlich leer? Dass ich in dieser Zeit immer um Verzeihung bitten will? Aber nicht dafür, dass ich Putin nicht eigenhändig gestürzt ... habe, sondern dafür, dass ich kaum Möglichkeiten finde zu helfen.
Das ist schwer zuzugeben, aber das erste was mir durch den Kopf geht und das Herz zerreißt, ist etwas sehr Persönliches, nämlich die Tatsache, dass ich Angst habe.

Es macht mir Angst, wenn jemand, der mir sehr nahe steht, jemand mit dem wir uns unter einer Decke gegenseitig die Bücher vorgelesen haben, jemand mit dem wir durch halbe Moskau zu Fuß spaziert sind, während eines Telefonats aus Dnipro sagt: 'Du, ich muss auflegen, wir haben Luftalarm'. Und in Dnipro ist es im Vergleich zu den anderen Orten noch ruhig. Es ist unerträglich zu denken, was die anderen, die gerade in den Städten wie eine Hölle sind, fühlen, und wie es deren Angehörigen, die hier sind, geht.

Es macht mir angst, dass die ersten, die in Russland leiden werden, sind die Schwächsten , nämlich die Menschen mit besonderen Bedürfnissen. In diesem Bereich hat eine gute Freundin von mir gearbeitet. Jetzt ist sie aber nicht mehr in der Abteilung für die Barrierefreiheit eines Museums, sondern mit ihrer Familie in einem Dorf in der Nähe von Dnipro. Und alles, was ich für sie machen kann, ist zu hoffen, dass sie nicht bombardiert werden und genug zum Essen haben, und mich um ihre Katze kümmern - nun habe ich zwei Katzen.

Es macht mir Angst, wenn eine Freundin aus Lviv schreibt, 'kommt auf die Straßen, ihr seid unsere einzige Hoffnung'. Doch ich sehe, dass es gar keine Hoffnung gibt. Die Proteste sind ein verzweifelter Schrei von denen, die sich gegen den Krieg positionieren, die schockiert vom Verhalten unserer Regierung sind. Diese Proteste haben keine Auswirkung auf russische Regierung. Denn russischer Regierung ist unsere Meinung egal.

Es macht mir Angst, zum ersten Mal von der Sonderpolizei fliehen zu müssen, von diesen schwarzen Robotern ohne Gesichter und Erkennungsmarken.

Es macht mir Angst einem Mädchen nicht helfen zu können, das gerade neben dir gepackt und brutal zusammengeschlagen wird. Denn ein Versuch sich dazwischen zu stellen gilt als Gewalt gegen den Polizeibeamten und wird mit mehreren Jahren Haft bestraft. Mag sein, dass es feige klingt für diejenigen, die in anderen Städten demonstrieren. Aber wenn ihr helfen wollt, kommt zu uns, wir würden uns freuen.

Es macht mir Angst, dass Putin und sein Team wohl verstanden haben, dass sie verlieren, und werden bei ihrem Absturz versuchen so viele Menschen wie möglich mitzunehmen.

Ich habe Angst, dass die Ukraine es nicht schafft. Aber ich will, dass die Ukraine siegt. Bitte, besiegt uns! Das ist auch die einzige Chance für uns, die gegen den Krieg sind. Mag sein, dass ich nicht viel von Politik verstehe, aber das, was die Russische Föderation gerade tut, darf nie und nimmer passieren.

Es macht mir Angst, wenn meine weinende Mutter mich am Telefon bittet, nicht zu den Protesten zu gehen und keine Petitionen zu unterschreiben, während mein Vater in Zitaten von Propaganda-Fernsehen spricht:“Uuuh, wir kommen jetzt und befreien Ukraine von Nazi-Regierung! Wieso sind wir schon vor 8 Jahren nicht drauf gekommen?!” Aber ich kann nicht mitjubeln.

Ich habe Moskau nicht verlassen. Ich habe zwei Katzen, kein Geld und keine international vermarktbaren Kompetenzen. Aber ich habe auch Angst hier zu bleiben. Hier zu sein und nichts zu tun ist für mich unerträglich. Aber was kann man überhaupt tun?
Immer wieder die Geldstrafen wegen der Protesten zu zahlen, ist nicht sinnvoll. Ich habe noch keine Antwort darauf, aber ich suche danach weiter.
Ich hoffe, dass die Proteste nicht aufhören, trotz der Tatsache, dass wir jetzt auch offiziell keine Rechte mehr haben.

Während ich das geschrieben habe, habe ich verstanden, dass man anders als aus eigener persönlicher Perspektive kaum sprechen kann. Und ich habe Angst - das ist inzwischen wahrscheinlich allen klar geworden, Angst um viele und um vieles.

Die Lage bezeichnet man im Russischen als “Pisdets”.

Bitte helft den Ukrainern, helft mit allen Mitteln. Und wendet euch bitte nicht von Russen und Belarussen ab, die gegen den Krieg sind, unabhängig davon, ob sie in ihren Ländern bleiben oder fliehen. Ich bin gegen den Krieg. Ich bin dagegen. Dagegen.

Die Rede für 31.01.2022 Demo «Russen gegen Krieg»

Heute will ich ein Statement einer russischen Bloggerin vorlesen - Nika Belotserkovskaya. Wegen ihrer Posts wird sie in Russland strafrechtlich verfolgt und ihr drohen bis zu 15 Jahre Haftstrafe ... .

Am 26 Februar, 2 Tage nach dem Anfang des Krieges schrieb sie:
1. Ich halte das ukrainische Volk nicht für meinen Feind. Ich halte sie für meine Brüder und Schwestern.
2. Ich halte die „spezielle Operation“ für einen eroberischen Krieg mit einem souveränen Staat.
3. Ich bin absolut entsetzt darüber, wie viele Mütter von beiden Seiten ihre Söhne nicht mehr nach Hause bekommen werden. Jungs 18-20 Jahre, die den imperialistischen Ambitionen zum Opfer fallen.
4. Ich bin absolut entsetzt von den wirtschaftlichen Folgen, die wir noch lange Jahre werden bewältigen müssen.
5. Ich habe Angst um meine Kinder! Ich will, dass sie in einer Welt ohne diesen fürchterlichen Hass leben, den dieser Krieg bringt, den kein Mensch wollte.
6. Ich schäme mich nicht dafür, Russin zu sein. Aber als Mensch des Friedens schäme ich mich jetzt dafür, dass ich nichts tun und verändern kann.
7. Für diesen Krieg gibt Russland Milliarden Dollar pro Tag aus für die Waffen „um ihre Bürger zu retten“. Für das Geld hätte man längst friedlich alle retten und jedem „Geretteten“ einen Palast bauen können.
8. Patrioten Russlands- verzieh euch.
9. Unmenschen, die das, was jetzt passiert, für eine notwendige Maßnahme halten, folgt den Patrioten.
10. Staatspropagandisten, die mit der Kriegspropaganda Geld verdient, folgt den Unmenschen.
11. Und am meisten, ehrlich gesagt, habe ich Angst vor dem ROTEN KNOPF. „Spezielle Operation“, die für alle von uns, für die ganze Menschheit, das Ende bedeuten kann. Nicht mal zu Zeiten des Höhepunkts des kalten Krieges hatte ich solche Angst.

Und noch eins. Es gibt kein „Aber“. Ich bin gegen Krieg, aber… . Was für Aber? Aber Halbtot? Ich hoffe, es ist euch jetzt klarer geworden.

«Genug Tod, genug Wut, genug Blut, das alles ist genug für uns und unsere Kinder»

Ansprache von Natalia Sindeeva an Tina Kandelaki, Margarita Simonyan und Maria Zakharova (gekürzte Fassung)
Natalia Sindeeva: Gründerin, Haupteigentümerin und CEO der Dozhd Media ...
Tina Kandelaki: Stellvertretende Generaldirektorin von Gazprom-Media
Margarita Simonyan: Chefredakteurin der Nachrichtenagentur Russia Today
Maria Zakharova: Sprecherin des russischen Außenministeriums
Dieser Artikel wurde in Ausgabe 30 vom 23. März 2022 veröffentlicht.

Ich weiß nicht, warum ich das schreibe, und ich glaube nicht, dass diejenigen, an die ich mich wende, mich hören wollen, aber ich kann nicht anders, ich glaube verzweifelt an das Gute, denn es gibt heute nichts mehr für uns, außer diesem Glauben, also sage ich es trotzdem.

Tina, Mascha, Margo, wir kennen uns schon lange persönlich. Und zuerst wollte ich sogar jeder von euch einen persönlichen Brief schreiben, aber als ich euch auf der Bühne in Luzhniki sah, entschied ich, dass es wichtig ist, euch öffentlich anzusprechen.

Ja, wir stehen schon lange auf verschiedenen Seiten. Ja, wir haben grundlegend unterschiedliche Ansichten und Werte, und ich zweifle nicht an der Aufrichtigkeit eurer Überzeugungen. Ihr habt jedes Recht darauf, genauso wie ich an das Gegenteil glauben muss. Aber heute reden wir nicht mehr über Ansichten und Meinungen. Heute sprechen wir über Leben und Tod. Und alles andere, so scheint es mir, tritt vor dieser Tatsache in den Hintergrund.

Margo, Tina, Masha, ihr seid schöne, starke Frauen, ihr seid berühmte Persönlichkeiten, aber ihr seid auch Mütter. Und ich bin auch Mama. Und als Mutter kann ich nicht aufhören zu weinen.
In der Ukraine sterben Kinder. Sehr junge, Ein- und Zweijährige, Schul- und Kindergartenkinder sterben. Mädchen und Jungen sterben. Sie sterben unter Bomben, sie sterben in Notunterkünften, sie sterben unterwegs, bei dem Versuch zu fliehen und sich zu verstecken.

Ukrainische Mütter begraben ihre Kinder in kleinen Särgen. Ich denke die ganze Zeit darüber nach, ich weiß nicht, wie ich damit leben soll. Was sagen wir Mütter zu ihren Müttern? Wie sollen wir ihnen in die Augen sehen?

Was wäre, wenn es eure Kinder wären?

Genug Tod, genug Wut, genug Blut, all das ist genug für uns und unsere Kinder und sogar die Kinder ihrer Kinder. Es liegt noch ein langes Leben vor uns, ein schwieriges Leben, aber immer noch Leben. Nach dem Tod gibt es kein Leben, und wir haben Glück, dass wir keine ukrainischen Kinder sind, wir haben eine Chance, ihr habt eine Chance. Ich bitte euch, Frauen, Mütter, Margot, Tina, Mascha, bleibt Menschen und wechselt auf die Seite des Lebens.

Ich weine und flehe euch an – hört auf.

Natalia Sindeeva